Vom Stellenwert der Demokratie
ATHEN/BERLIN (Eigener Bericht) - Vor der Neuwahl in Griechenland debattieren die deutschen Eliten unterschiedliche Gewaltszenarien zur Sicherung der Kontrolle über Athen. Diskutiert werden neben der Errichtung eines Protektorats auch ein Putsch sowie die Entsendung von "Schutztruppen" in den südeuropäischen Staat. Das deutsche Spardiktat, das Griechenland in die Verelendung treibt, entfacht einen immer stärkeren Widerstand in der Bevölkerung, der sich auf demokratischem Wege nicht länger niederhalten zu lassen scheint. Die Bemühungen Berlins, die Unterordnung Athens mit der Drohung zu erzwingen, Griechenland den Euro zu nehmen, scheitern ebenso wie die Forderung der Bundesregierung, die griechische Parlamentswahl mit einem Referendum über den Verbleib des Landes in der Eurozone zu verbinden. Die Option, das Spardiktat zurückzunehmen und statt seiner neue Wachstumsprogramme aufzulegen, wie es führende Ökonomen weltweit fordern, weist Berlin kategorisch zurück - obwohl der Ausschluss Griechenlands aus der Eurozone die gesamte Währung in den Abgrund zu reißen droht.
Vor der Neuwahl in Griechenland, die nach dem
Scheitern aller Versuche zur Regierungsbildung in der letzten Woche für
den 17. Juni anberaumt worden ist, zeichnet sich eine Mehrheit für
diejenigen Kräfte ab, die das deutsche Spardiktat dezidiert ablehnen.
Selbst mit einer knappen Überzahl unter den Abgeordneten ist es den drei
Parteien, die zur Umsetzung der Austeritätsprogramme bereit sind, nicht
gelungen, eine Regierung zu bilden. Umfragen sagen jetzt ihre
Niederlage voraus. Berlin und Brüssel sehen ihre letzte Chance, einen
Meinungsumschwung zu erreichen, darin, die Tatsache zu nutzen, dass eine
Mehrheit der griechischen Bevölkerung den Euro behalten will. Bereits
vor der Ankündigung der Neuwahl erklärte Bundesfinanzminister Wolfgang
Schäuble, die Eurozone könne den Austritt Griechenlands problemlos
verkraften. Jetzt bestätigt EU-Handelskommissar Karel De Gucht,
EU-Kommission und EZB bereiteten sich bereits auf den Austritt vor.
Zudem lässt sich der Chef der Eurogruppe, Jean-Claude-Juncker, mit den
Worten zitieren: "Wenn wir jetzt eine geheime Abstimmung über den
Verbleib Griechenlands in der Euro-Zone machen würden, dann gäbe es eine
überwältigende Mehrheit dagegen". Die Neuwahl sei Athens "letzte
Chance"; ermögliche sie keine Mehrheit für die Spardiktate, "dann ist es
aus".[1]
Kein Recht auf Respekt
Zusätzlich hat Berlin offenbar Druck auf Athen
ausgeübt, die Neuwahl mit einem Referendum über den Verbleib
Griechenlands in der Eurozone zu verbinden, um die Aussichten der
Austeritätsgegner zu mindern. Berichten zufolge hat Finanzminister
Schäuble dies bereits am letzten Montag auf dem Treffen der
Euro-Finanzminister seinem Amtskollegen aus Athen nahegelegt.[2]
Unterstützt werde der Vorschlag, heißt es, auch vom Vorsitzenden der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Volker Kauder ("Jetzt wird in Europa Deutsch
gesprochen" [3]). Wie ein Athener Regierungssprecher bestätigt, hat
Bundeskanzlerin Angela Merkel am Freitag den griechischen
Staatspräsidenten Karolos Papoulias gedrängt, den deutschen
Referendumsplan umzusetzen. Noch im November 2011 hatte Berlin den
damaligen Ministerpräsidenten Giorgos Papandreou schroff zurückgewiesen,
als er mit demselben Vorschlag an die Öffentlichkeit gegangen war; das
führte zu seinem Sturz. Die offene Einmischung der Bundesregierung stößt
in Athen auf empörten Protest. Die griechische Bevölkerung habe ein
"Recht auf Respekt", wird der Vorsitzende der konservativen Nea
Dimokratia, Antonis Samaras, zitiert. Berlin handele, als ob es sich bei
Griechenland "um ein Land unter Protektorat handele", urteilt der
Vorsitzende der Oppositionspartei Syriza, Alexis Tsipras.[4]
Eurodämmerung
Jegliches Abweichen von dem brutalen Austeritätskurs,
der Griechenland immer weiter in den Ruin treibt
(german-foreign-policy.com berichtete [5]), wird von Berlin schroff
zurückgewiesen - obwohl damit ein Zusammenbruch der gesamten Eurozone
näher rückt. Vor wenigen Tagen hat, keineswegs als erster, der Ökonom
und Nobelpreisträger Paul Krugman ein solches Szenario beschrieben.
Bald, "sehr wahrscheinlich im nächsten Monat", werde Griechenland den
Euro-Austritt vollziehen, urteilt Krugman. Unmittelbar danach sei
zumindest in Spanien und Italien - aus Furcht, die beiden Länder könnten
ebenfalls ökonomisch kollabieren - mit einer umfassenden Kapitalflucht
nach Deutschland zu rechnen. Drastische Maßnahmen müssten folgen -
Einschränkungen des Geldtransfers oder neue Stützungsmaßnahmen für
spanische und italienische Banken, eventuell auch beides. Perspektivisch
komme man jedoch nicht umhin, vor allem der spanischen Wirtschaft mit
Wachstumsprogrammen auf die Beine zu helfen. Dies laufe auf den
Strategiewechsel bei der Krisenbekämpfung hinaus, den Berlin von Beginn
an mit seiner ganzen Macht verhindert habe. "Deutschland hat die Wahl",
erklärt Krugman: Entweder akzeptiere die Bundesregierung den
Kurswechsel, oder es stehe "das Ende des Euro" bevor. Über die
Zeitperspektiven der "Eurodämmerung" äußert Krugman: "Wir sprechen von
Monaten, nicht Jahren".[6]
Protektorat
Die deutschen Eliten, die den von Krugman und von
zahllosen weiteren Experten außerhalb Deutschlands geforderten
Kurswechsel weiterhin nicht in Betracht ziehen [7], gehen nun dazu über,
in aller Öffentlichkeit Gewaltszenarien zu debattieren. Bereits zu
Monatsbeginn hat der Direktor des prominenten Hamburger
WeltWirtschaftsInstituts, Thomas Straubhaar, in einem Zeitungsbeitrag
gefordert, ein Protektorat über Griechenland zu errichten - "unabhängig
vom Wahlergebnis".[8] Bei dem Land handele es sich um einen "failed
state", einen "gescheiterte(n) Staat", der sich "nicht aus eigener Kraft
(...) zu einem Neuanfang zwingen" könne.[8] Athen benötige
"Unterstützung bei der Schaffung funktionsfähiger staatlicher
Strukturen". Man müsse es deshalb "zu einem europäischen Protektorat"
machen. "In diesem Punkt ist die EU gefordert", behauptet Straubhaar:
"Sie müsste Griechenland bei einer institutionellen Modernisierung auf
jeder Ebene, vor allem aber mit Verwaltungsangehörigen,
Steuerfachkräften und Finanzbeamten unterstützen." Allerdings sei dabei
"Fingerspitzengefühl" nötig, "um nationalen Stolz, Eitelkeiten und den
Widerstand von Interessengruppen bei der Neugründung Griechenlands zu
überwinden." Die Äußerungen beziehen sich auf eine souveräne, mit
Deutschland in EU und NATO verbündete Demokratie.
Putsch
Debattiert wird inzwischen auch über einen
Staatsstreich in Athen. Griechenland drohe vollständig im Chaos zu
versinken, warnt ein langjähriger Weggefährte des einstigen Berliner
Außenministers Joseph Fischer, Daniel Cohn-Bendit, der für Les Verts -
das französische Pendant zu den deutschen Grünen - im Europaparlament
tätig ist. Cohn-Bendit erklärt umfangreiche auswärtige Einmischung für
unumgänglich: "Wenn man die Griechen alleine sich durchwursteln lässt,
riskiert man einen Militärputsch."[9] Deutsche Kommentatoren ziehen
Parallelen zur Lage in der späten Weimarer Republik. "Der Worst Case
wäre im Falle Griechenlands der Rückfall in eine Diktatur", warnt etwa
ein einflussreicher Kommentator: "Die Wahrscheinlichkeit dieses
Szenarios wächst mit dem Grad politischer Instabilität." Über den
Zusammenhang einer möglichen Diktatur mit dem Spardiktat aus Berlin
heißt es in dem Kommentar: "Schon heute wirkt es so, als ließe sich
Merkels Sparpolitik auf den Straßen von Athen allenfalls noch mit
Waffengewalt durchsetzen."[10]
Schutztruppen
Die Entsendung von Militär nach Griechenland hat
letzte Woche erstmals eine führende deutsche Tageszeitung thematisiert.
Sollte das Land in den Staatsbankrott treiben, dann wäre es als
"'failing state' (...) weniger denn je in der Lage", seine Außengrenzen
gegen Flüchtlinge abzuschotten, hieß es in der Frankfurter Allgemeinen
Zeitung. Erst vor kurzem habe die EU-Kommission mitgeteilt, sie sehe
sich ohnehin gezwungen, die EU-Grenztruppen, die an der
türkisch-griechischen Grenze die Abschottung der EU durchsetzen und
perfektionieren sollen, dort stationiert zu lassen. Sollte Athen "seine
Beamten nicht mehr oder nur noch in Drachmen bezahlen" können, dann
drohten "chaotische Zeiten".[11] Das Land werde in diesem Fall
"womöglich von Unruhen erschüttert". "Die Griechenlandhilfe müsste dann
nicht mehr aus Krediten, sondern aus einer Art humanitärer Nothilfe
bestehen", urteilte die Zeitung im Leitkommentar auf ihrer Titelseite:
"An internationale Schutztruppen, wie sie weiter nördlich zur
Stabilisierung taumelnder Staaten stationiert sind, wird man hoffentlich
nicht denken müssen."[12]
Weitere Informationen und Hintergründe zur deutschen Griechenland-Politik und ihren Folgen finden Sie hier: Die Folgen des Spardiktats, Ausgehöhlte Demokratie, Wie im Protektorat, Europa: Am Rande des Abgrunds, aber deutsch (II), Nach dem Modell der Treuhand, Verelendung made in Germany und Das Antlitz der Krise.
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